Dieser Artikel ist erstmals erschienen im Magazin Digital Health Industry - Ausgabe 03/24 (4. September 2024)
Die Medizin ist mit ihrer Fülle an Diagnose- und Behandlungsdaten prädestiniert für KI-Anwendungen. Doch hierzulande hat die Technologie noch nicht den Durchbruch geschafft. Der Beitrag zeigt, welche Anwendungen sich im Ausland bereits bewährt haben und auch in Deutschland umsetzbar sind.
Bisher ist KI in Deutschland nur in wenigen medizinischen Prozessen involviert. Mit den jüngsten technologischen Fortschritten steigt die Hoffnung, dass sich das ändert. Doch die Technologie ist nur das Eine. Noch wichtiger ist es, Anwendungsfälle zu identifizieren, die einen Nutzen bringen – für Patienten sowie für Kliniken. Diese Use Cases würden ein verbreitetes Henne-Ei-Problem lösen: Nur wenige wagen sich hierzulande an die Implementierung von KI, weil es wenige Anwendungsbeispiele gibt. Und es gibt wenige Anwendungsbeispiele, weil sich zu wenige an die Implementierung wagen.
Experten von InterSystems haben analysiert, wo sich KI heute einsetzen lässt, damit ein klarer Nutzen entsteht. Das Unternehmen bietet seit über 46 Jahren intelligente Datenlösungen für den Healthcare-Markt an. Aufbauend auf diesem Erfahrungsschatz war es das Ziel, Anwendungen zu identifizieren, die
- in die heutigen Abläufe von Kliniken passen,
- einfach umzusetzen sind, mit wenigen bis keinen Anpassungen der bestehenden IT-Infrastruktur,
- datenschutzkonform sind und so wenig Datenpunkte wie möglich benötigen.
Drei Anwendungsfälle stechen dabei besonders heraus:
Verhinderung unnötiger Wiederaufnahmen von Patienten
Werden Patienten zu früh entlassen, nützt das niemandem. Unter Umständen verzögert es den Genesungsprozess. Und Kliniken dürfen die Wiederaufnahme und Behandlung mit derselben Diagnose innerhalb von 30 Tagen nicht erneut abrechnen. Bei der Entlassungs-Entscheidung kann Künstliche Intelligenz unterstützen. Sie kann eine Wiederaufnahme-Prognose abgeben, dank der das medizinische Personal gezielt eingreifen und die Entlassung besser vorbereiten oder aufschieben kann.
Die erforderliche Datenmenge ist überschaubar: InterSystems verwendet in seiner Lösung nur 12 bis 14 Parameter, die in den meisten Klinik-Informationssystemen verfügbar sind. Dazu zählen unter anderem Alter, Geschlecht, Diagnose, Aufenthaltsdauer und Informationen zum Behandlungsverlauf.
In den Vereinigten Arabischen Emiraten wurde eine solche Anwendung von InterSystems erfolgreich getestet. Die KI konnte verlässlich vorhersagen, welche Patienten ein über 80-prozentiges Risiko hatten, innerhalb von 30 Tagen wieder eingewiesen zu werden. Mithilfe der KI konnte die Wiederkehrer-Quote um acht Prozent gesenkt werden. Bei 5.000 Patienten im Jahr entspricht das 400 vermiedenen Wiederkehrern und einem Einsparungspotenzial von rund 1,25 Millionen Euro gemäß dortiger Erstattungen.
Das Modell ist mit einem anonymisierten Datensatz vortrainiert und muss für eine genaue Vorhersage nur noch mit Daten des Krankenhauses validiert werden. Als Managed Service – die sogenannte AI-as-a-Service (AIaaS) – stellt das Krankenhaus lediglich Datenelemente aus seinem Klinik-Informationssystem zur Verfügung und erhält eine individualisierte Vorhersage zurück.
Reduzierung der No-Show-Rate
Jede Praxis und jedes Krankenhaus kennt das Problem der No-Shows: Patienten, die ihre Termine nicht wahrnehmen, ohne abzusagen. Dies führt zu Unannehmlichkeiten – organisatorisch wie finanziell: Die reservierten Zeiten stehen anderen Patienten nicht zur Verfügung. Sie können nicht abgerechnet werden, stattdessen müssen neue Termine vereinbart werden. Zudem kann das Versäumen eines Termins für die Patienten selbst gesundheitliche Folgen haben, wenn Diagnosen zu spät gestellt oder Behandlungen zu spät begonnen werden.
Auch hier können Technologien wie künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen (ML) helfen. Möglich wird dies durch eine kombinierte Analyse und Bewertung von historischen Patientendaten, sozioökonomischen Faktoren wie Alter und Geschlecht der Patienten, vorherigem Terminverhalten, Art der Konsultation und anderen Variablen. Anhand dieser Informationen kann die KI vorhersagen, welche Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit ihren Termin nicht wahrnehmen werden.
Wie diese Lösung in der Praxis aussieht, zeigt das King Khaled Eye Specialist Hospital in Saudi-Arabien: Dort kämpfte man mit einer hohen No-Show-Rate von 18 Prozent. In Zusammenarbeit mit InterSystems entwickelte das Krankenhaus ein Machine-Learning-Modell zur Vorhersage von No-Shows. Der Effekt war deutlich: Vor der Einführung der KI riefen die Klinikmitarbeiter rund 500 Patienten pro Woche an, um herauszufinden, wer seinen Termin nicht wahrnehmen würde. Dank KI sank diese Zahl auf 100 Patienten, weil nur jene mit einer No-Show-Wahrscheinlichkeit von über 70 Prozent kontaktiert wurden. Somit wurde nur noch eine statt vier Personen im Call-Center benötigt. Die No-Show-Rate konnte damit von 18 Prozent auf 10 Prozent reduziert werden.
Präzisere OP-Planung
OP-Zeit ist die teuerste Zeit im Krankenhaus. Dennoch wird sie oft nicht optimal genutzt: Operationen werden kurzfristig verschoben, ein Eingriff dauert deutlich länger oder kürzer als geplant. Die Folge sind Leerzeiten, lange Wartezeiten für Patienten und zusätzlicher Koordinierungs- und Betreuungsaufwand für das Personal. Der Grund sind häufig medizinische Unwägbarkeiten, die sich kaum vorhersagen lassen. Aber bis zu einem gewissen Grad lässt sich die Auslastung optimieren. Der Schlüssel sind Prognosen zur OP-Dauer.
Dabei spielen zwei Dinge eine Rolle: Die Dauer einer OP hängt oft an mehr Faktoren als nur der Diagnose. Auch das Alter des Patienten ist wichtig, sein Geschlecht oder seine Begleiterkrankungen. Der zweite Faktor sind die Teams, die einen Eingriff durchführen. Sie können gut eingespielt sein oder nicht, haben die Operation schon hundertmal gemacht oder nur zehnmal. Sie können müde sein, weil es bereits der vierte Patient an einem Tag ist. Eventuell spielt sogar der Wochentag eine Rolle.
Daraus ergibt sich eine Datenfülle, aus der sich eine Vorhersage für die Dauer einer Operation ableiten lässt. Aber sie ist manuell praktisch nicht auswertbar. Hier kommt KI ins Spiel. Da alle Informationen innerhalb eines Krankenhauses vorliegen, ist die Auswertung gut unter den Rahmenbedingungen in Deutschland möglich.
Alle drei Beispiele zeigen: Sowohl die Daten als auch die Technologien sind vorhanden, um erste KI-Anwendungen in die Klinik zu bringen. Die Implementierung der Technologie ist dabei oftmals mit sehr geringem Aufwand möglich. Den ersten Schritten in diese Richtung steht also viel weniger im Weg als oft angenommen wird.