Das elektronische Patientendossier (EPD) der Schweiz steht immer wieder in der Kritik. Anbieter, die bereits viel investiert haben, steigen aus. Go-lives werden verschoben. Und gerade erst sah sich das Bundesamt für Gesundheit (BAG) veranlasst, eine Sensibilisierungs-Kampagne anzukündigen und Massnahmen zur Revision des EPD zu initiieren, um es auf «Speed» zu bringen. Das nationale EPD der Abilis-Partnerapotheken ging 2022 an den Start.
Die landesweite Lösung stammt von Ofac, der Berufsgenossenschaft der Schweizer ApothekerInnen. Mit Dr. David Voltz, dem Chief Operations Officer der Vereinigung, sprachen wir über die Umsetzung und Vorteile der neuen digitalen Plattform.
Herr Dr. Voltz, wann und wie begann Ihr Projekt?
Dr. David Voltz: Die Stammgemeinschaft Abilis beruht auf der Zusammenarbeit von Ofac und pharmaSuisse, dem Schweizerischen Apothekerverband. Gemeinsam haben wir im Jahr 2017 die ABILIS Nationale interprofessionelle Stammgemeinschaft der Medikation AG gegründet. Ofac repräsentiert mehr als 60 Prozent des Marktes und betreibt seit mehr als 30 Jahren eine Cloud-Plattform, die sowohl Apotheken als auch Krankenversicherern verschiedene B2B Services im Bereich der Fakturierung anbietet. Die Digitalisierung von Geschäftsprozessen und der elektronische Datenaustausch sind «Daily Business» für uns.
Bei unserem neuen Projekt zeichnete sich schnell ab, dass es schwierig werden würde, mit dem EPD allein einen gewinnbringenden Business Case zu generieren. Denn einerseits waren die Funktionalitäten des EPD und damit die Attraktivität des Angebots beschränkt und andererseits waren die zu verwendenden technischen Standards fix definiert und dementsprechend komplex und aufwändig umzusetzen. Daher hat Ofac entschieden, den Apotheken in Ergänzung zur EPD-Plattform auch eine attraktive B2B-Plattform mit kostenpflichtigen Modulen zur Verfügung zu stellen, die digitale Gesundheitsplattform Abilis. Getreu dem Ofac-Ziel, Apotheken den Alltag so einfach wie möglich zu gestalten, sollte diese Gesundheitsplattform insbesondere dazu dienen, Apotheken auch in der digitalen Welt mit ihren Kunden zu verbinden und so eine ganzheitliche Betreuung zu erlauben.
Wie verlief die Realisierung der EPD-Plattform? Es gab doch sicherlich auch Herausforderungen?
Voltz: Dazu möchte ich etwas ausholen. Die Grundfunktionalitäten unserer Lösung für das EPD ergänzen die bereits bestehenden Funktionalitäten der Abilis-Gesundheitsplattform optimal. Des Weiteren waren die Möglichkeiten, Patienten eine starke Authentifizierung und eine EPD kompatible mobile App anbieten zu können, für uns wichtige Entscheidungskriterien.
Bei der Umsetzung der neuen EPD-Plattform konnten wir auf einer bereits bestehenden IT Plattform aufbauen. Zudem konnte Ofac die Entwicklungskosten gut kontrollieren und hat über das notwendige technische Know-how für die Aufgaben verfügt. All das hat dazu geführt, dass die Gesamtkosten für den Aufbau und den Betrieb der neuen Lösung für die Genossenschaft tragbar sind. Hürden traten insbesondere bei der Konfiguration und dem Zusammenspiel der einzelnen Komponenten auf. Doch nach fast einem Jahr des Betriebs läuft die Lösung jetzt stabil.
Die rund 80 IT-Experten in unserer Gruppe profitierten sehr von der Unterstützung unserer Partner. So dient uns die interoperable Gesundheitsvernetzungslösung von InterSystems als funktionelle Basis für unsere Cloud-Plattform. BINT, unser Implementierungspartner, Ergänzungen für den Einsatz der Lösung in der Schweiz entwickelt. Damit erfüllt unsere Plattform die Anforderungen des Bundesgesetzes über das EPD und die technischen und organisatorischen Zertifizierungsvoraussetzungen. Unsere Partner InterSystems und BINT arbeiten beide sehr agil und teilen gern ihr grosses Wissen über eHealth-Prozesse mit uns. Anstatt Probleme zu wälzen, wurden rasch kreative Lösungen gefunden und sauber umgesetzt. Das war die optimale Voraussetzung für die einfache und schnelle Implementierung der Plattform. Es ist insgesamt eine grossartige Zusammenarbeit.
Sie kennen die Bedürfnisse von Apotheken und Patienten. Worauf legen die bei einer digitalen Plattform besonderen Wert?
Voltz: Zunächst einmal kommt es für Patienten darauf an, ein EPD ohne grossen zeitlichen Aufwand eröffnen und die Lösung intuitiv bedienen zu können. Im Mittelpunkt steht aber das Datenmanagement. Für Patienten müssen die eigenen Daten jederzeit und vor allem sicher zur Verfügung stehen. Der Schutz der Daten und ihre Ablage auf Schweizer Servern spielt also eine grosse Rolle. Ausserdem fordern Patienten, dass sie ihre Dokumente einfach hochladen, einsehen und gegebenenfalls teilen können.
Für Gesundheitsfachpersonen ist es matchentscheidend, dass die Prozesse rund um das EPD nahtlos in ihren täglichen Arbeitsablauf integrierbar sind und keinen Zusatzaufwand benötigen. Selbstverständlich gehören Datenschutz und Datensicherheit dabei zu den obersten Prioritäten, wie auch die Stabilität und Hochverfügbarkeit des Systems.
Welche Vorteile bringt Ihre Lösung demnach genau?
Voltz: Gegenüber der Konkurrenz sehen wir mit Blick auf unsere Plattform für das EPD einige Alleinstellungsmerkmale. Besonders zu erwähnen ist ihre tiefe Integration in unsere andere Plattform und die Primärsysteme von Apotheken. Dank ihr kann jeder in einer Abilis Partner- Apotheke innerhalb weniger Minuten eine elektronische Identität – trustID – generieren und ein EPD eröffnen. Auch die zweite Besonderheit hilft allen Beteiligten: Wenn ein Patient bereits unsere digitale Gesundheitsplattform nutzt, wird sein Medikationsplan automatisch in das EPD geladen. Zudem erfolgt eine Aktualisierung des Plans mit jeder neuen Änderung, wie beispielsweise der Einnahme eines neuen Medikaments oder einer geänderten Dosierung, ohne Mehraufwand. Um dem Bedürfnis der Benutzerfreundlichkeit zu entsprechen, bieten wir für den Zugriff neben einem Webportal auch eine App für Android und iOS. Diese App, die von von BINT stammt, ermöglicht es Patienten, ihre Daten jederzeit abzurufen, sie zu verwalten, Fotos von Dokumenten zu machen und diese hochzuladen.
Ihre EPD-Plattform ist bereits im Einsatz. Wie lautet bisher das Feedback der Beteiligten?
Voltz: Die Rückmeldung der Apotheken ist sehr positiv. Aber einige Gesundheitsfachpersonen bleiben skeptisch. Die Vorteile des EPD werden bisher nicht deutlich genug herausgestellt. Es gibt also einen grossen Informationsbedarf. Wir sprechen daher mit den Apotheken und begleiten sie während der Implementierung unserer Lösung. Bei uns können Gesundheitsfachpersonen auch online die gesetzlich geforderte Schulung für die Herausgabe einer elektronischen Identität und die Eröffnung eines EPD absolvieren. Offene Fragen beantworten wir ausserdem in regelmässigen Webinars.
Auf der anderen Seite erkennen wir, dass viele Patienten bei unseren beiden Lösungen, der Gesundheits- und der EPD-Plattform, ein Konto eröffnen, wenn Apothekenteams sie aktiv darauf ansprechen. Somit gehen wir davon aus, dass unsere Lösung für das EPD gut akzeptiert wird. Wenn wir die Zunahme der Eröffnungen von EPD seit dem Go-live mit denen unserer Mitbewerber vergleichen, zeigt unsere Kurve auch steiler nach oben. Das alles stimmt uns positiv. Dennoch bleibt die Zahl der Menschen, die ein EPD nutzen, weit hinter unserer Vorstellung zurück.
Welche nächsten notwendigen Schritte ergeben sich für Sie daraus?
Voltz: Wir warten mit Sehnsucht auf die nationale Kommunikationskampagne rund um das EPD, die der Bund angekündigt hat. Jeder muss dessen Nutzen kennen, damit die Nachfrage steigt. Für unsere Branche geht es zudem darum, zwischen allen Stammgemeinschaften und ihren einzelnen Lösungen für echte Interoperabilität zu sorgen. Das macht den Kern des Konzepts in der Schweiz aus. Nur unter dieser Voraussetzung gelingt der Datenaustausch zwischen den EPD Anbietern. Dann können Gesundheitsfachpersonen mit Erlaubnis der Patienten auf die Daten zugreifen und neue Dokumente ablegen.
Wichtig sind auch weitere Funktionen, die in ihrer Gesamtheit die Anwendung des EPD durch Patienten und Gesundheitsfachpersonen begünstigen. So plant der Bund unter anderem, Impfungen strukturiert zu erfassen. Ausserdem werden neue Austauschformate für Allergien und Laborresultate definiert. Das begrüssen wir.
Was planen Sie in dieser Hinsicht in der nächsten Zukunft?
Voltz: Wir richten uns nach den Vorgaben des Bundes und setzen sie konsequent um. Dazu gehören zum Beispiel die aktuell stattfindenden Interoperabilitätstests mit verschiedenen Stammgemeinschaften. Für noch mehr Benutzerfreundlichkeit digitalisieren wir den Prozess für die Eröffnung eines EPD bald vollständig. Danach können Patienten ihre Erstanmeldung online durchführen. Möglich wird dann auch ein einfaches Onboarding von Familien mit einer automatischen Stellvertreterfunktion für Eltern. Zudem erweitern wir das Abilis EPD konsequent um Mehrnutzen in den Bereichen eMedikation und eImpfung, aktuell z.B. durch die Integration des Impfmoduls des BAG. Die Ideen gehen uns nicht aus – dank der Unterstützung und Kreativität unserer Partner InterSystems und BINT bieten wir stets eine innovative und schlanke Lösung mit echtem Mehrwert für Gesundheitsfachpersonen und Patienten.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Voltz!
Das Interview ist zuerst im Magazin clinicium, Ausgabe 02/23, erschienen.