Dieser Artikel ist erstmals erschienen im Magazin clinicum - Ausgabe 6/24 (02.12.2024)
Die Umsetzung des elektronischen Patientendossiers (EPD) dauert länger als erwartet. Um dem Projekt Antrieb zu verleihen, hat der Bundesrat die Weichen für eine umfassende Neuorientierung und gleichzeitige Weiterentwicklung des EPD gestellt – hin zu einer zentralen Lösung. In diesem Beitrag wird näher erläutert, wie mithilfe des jetzigen und des neuen EPD ein digitales Gesundheits-Ökosystem entstehen kann und welche Eigenschaften die zugrundeliegende Technologie mitbringen muss.
Es ist ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu einer digitalen, vernetzten Gesundheitsversorgung: das elektronische Patientendossier, kurz EPD. Die digitale Ablage wichtiger Patienteninformationen ermöglicht es Gesundheitsfachpersonen und Patienten, einfacher auf Daten zuzugreifen. So erleichtert sie den Informationsaustausch und kann die Versorgung effizienter gestalten. Doch schweizweit nutzen aktuell gerade einmal 0.8 % der Bürger das digitale Dossier – es geht nur zögerlich voran. Mit einer umfassenden Revision des Bundesgesetzes über das elektronische Patientendossier (EPDG) will der Bundesrat das EPD weiterentwickeln, damit es sein volles Potenzial entfalten kann. Um der im Vernehmlassungsverfahren weithin geäusserten Forderung nach Wertschöpfung nachzukommen und die Nutzung des EPD zu erhöhen, soll die technische Infrastruktur des EPD neu zentralisiert vom Bund zur Verfügung gestellt werden.
Wenn das EPD seitens Patienten und Leistungserbringer auf mehr Akzeptanz stossen soll, muss es den Bedürfnissen der NutzerInnen tatsächlich entsprechen: Es muss reibungslos anschlussfähig an andere Systeme sein, zuverlässig laufen und Funktionen bieten, die den Patienten und Ärzten den Alltag erleichtern.
Bessere Versorgung dank EPD?
Ein digitaler Speicher, der alle wichtigen Gesundheitsinformationen eines Patienten umfasst, kann die Versorgung in Praxen und Spitälern in mehrfacher Hinsicht verbessern. Konkret bedeutet das:
- Er ermöglicht einen besseren Informationsaustausch zwischen Ärzten und Patienten und damit fundierte Entscheidungen.
- Patienten erhalten mehr Kontrolle über ihre Daten, was wiederum Vertrauen und Adhärenz fördern kann.
- Gesundheitseinrichtungen können Arbeit und Kosten einsparen, weil doppelte Untersuchungen vermieden werden.
- Ein EPD erleichtert kollaboratives Arbeiten, zum Beispiel in Form von Telemedizin.
- Das öffentliche Gesundheitswesen, die Politik und die Forschung profitieren, da z.B. frühzeitige Erkenntnisse über Krankheitsausbrüche möglich sind.
Noch sind diese Vorteile des EPD weitgehend Theorie. Damit sie Wirklichkeit werden, braucht es neue Ansätze im Umgang mit Daten. Das EPD muss Teil eines digitalen Ökosystems sein, das den reibungslosen Austausch von Daten ermöglicht und verschiedene IT-Systeme einfach miteinander verbindet. Ein Beispiel verdeutlicht das: Mit der derzeitigen PDF-basierten Variante haben Ärzte idealerweise zwar rasch Zugriff auf alle verfügbaren Patientendaten. Aber der Arzt muss alle Dokumente einzeln anschauen, ein automatischer Hinweis auf gefährliche Medikamenten-Wechselwirkungen ist beispielsweise nicht so einfach möglich. Diese Art der Datennutzung gelingt nur, wenn die Informationen aus dem PDF herausgelöst werden, das digitale Dossier also in der Lage ist, granulare Daten flexibel zu verarbeiten, in Echtzeit zu analysieren und auszutauschen. Und es muss in der Lage sein, reibungslos mit anderen Systemen und Services zu kommunizieren. Dafür muss die technologische Basis Interoperabilität, Stabilität und Sicherheit auch bei variierenden Datenmengen bieten.
Leistungsfähiges, zentralisiertes EPD von morgen: Worauf es ankommt
Nötig ist demnach zusätzlich zu einem dokumentenbasierten Vorgehen für strukturierte und unstrukturierte Dokumente, auch die multimodale datenbasierte Funktionalität des Dossiers, mit erweiterten Auswertungs- und Analysefunktionen, BI-Tools und individualisierbarer Datendarstellung. Diese Erweiterung bedarf einer zuverlässigen Technologie, die für derartige Aufgaben ausgelegt ist. Folgende technische Eigenschaften sind dafür grundlegend:
Skalierbarkeit
Ein zukunfts- und leistungsfähiges elektronisches Dossier sollte so konzipiert sein, dass es flexibel an die Bedürfnisse einzelner Nutzer oder Organisationen angepasst werden kann. Es sollte eine leistungsstarke Transaktionsverarbeitung und Analytik sowie flexible Sharding-Funktionalität bieten. Ebenso muss eine vertikale und horizontale Skalierung möglich sein, um beliebige Arbeitslasten, unendliche Daten und millionenfacher Benutzer einfach zu bewältigen. Zudem muss die dem EPD zugrundeliegende Technologie leicht in bestehende Systeme integrierbar sein und verschiedene Dateiformate unterstützen, um einen einfachen Datenaustausch zu ermöglichen.
eHealth Exchange, das grösste Gesundheitsinformationsnetzwerk in den Vereinigten Staaten, ermöglicht beispielsweise jährlich über 21 Milliarden sichere Transaktionen. Es bietet landesweit Konnektivität für 60 regionale und bundesstaatliche Hubs und macht so den Austausch von Gesundheitsdaten für 75 % der Krankenhäuser und weitere Gesundheitseinrichtungen in den USA möglich – Anzahl zunehmend.
Verlässlichkeit
Ein bundesweites, digitales Projekt, wie eine elektronische Patientenakte, muss eine hohe Verlässlichkeit bieten und stabil funktionieren – auch bei grossen Datenmengen und wechselnden Anforderungen. Möglich ist das beispielsweise durch eine hybride transaktional-analytische Datenplattform, die sowohl Echtzeit- als auch historische Daten verarbeiten kann.
Eine derartige Datenplattform kommt beispielsweise im Projekt Healthix im Bundesstaat New York zum Einsatz. Die digitale Plattform fasst die Daten von mehr als 16 Millionen Nutzern zusammen und ist an mehr als 6000 Gesundheitseinrichtungen angeschlossen. Dank der verlässlichen Datenbasis wurde die Plattform bereits für weitere Anwendungsbereiche genutzt. Zum Beispiel für Warnhinweise zu klinischen Ereignissen – unter anderem im Rahmen der Corona-Pandemie.
Datenintigrität
Auch die Integrität und Konsistenz der verarbeiteten und übertragenen Daten spielt bei einem elektronischen Dossier eine wichtige Rolle. Daher sollten internationale Standards wie FHIR, HL7 V2, IHE oder andere Interoperabilitätsstandards und -protokolle unterstützt werden. Sie ermöglichen einen reibungslosen Datenaustausch und verbesserte Workflows.
Wie wichtig die Konsistenz der Daten und die Interoperabilität der Systeme ist, zeigt sich auch im Projekt ISC West Midlands in Grossbritannien: In einer digitalen Pflegedatenbank werden pflegerelevante Daten von mehr als 3.2 Millionen Bürgern in der Region gesammelt. Auf Basis der Interoperabilitätsplattform HealthShare von InterSystems können Mitarbeitende der über 400 angeschlossenen Gesundheitseinrichtungen jederzeit auf die Daten zugreifen, die sie gerade benötigen.
Sicherheit
Nicht zuletzt muss ein EPD höchste Anforderungen an Sicherheit erfüllen, um die sensiblen Gesundheitsdaten in angemessenem Umfang zu schützen. Die zugrundeliegende Technologie muss daher mindestens die EU-weit geltende Datenschutz-Grundverordnung, DSGVO, erfüllen. Auch darüber hinaus gibt es Standards, deren Einhaltung einen adäquaten Umgang mit Gesundheitsdaten sicherstellen, wie die international gültige Sicherheitsnorm ISO 27001 oder der Health Insurance Portability and Accountability Act (HIPAA), der den Schutz von Gesundheitsdaten in den USA sicherstellt. Die Konformität mit Datensicherheitsstandards war auch Grundvoraussetzung für die Einführung einer eigenen EPD-Lösung in den Partnerapotheken von Abilis, die Ofac auf Basis der Technologie von InterSystems bereits 2022 umsetzte.
Intelligentes Dossier: KI als Teil des EPD
Neben einer soliden technologischen Basis sollte ein zukunftsfähiges EPD auch Ansätze zur Einbindung von künstlicher Intelligenz ermöglichen. Eine integrierte KI-Anwendung kann beispielsweise den behandelnden Arzt durch eine individuelle Zusammenstellung relevanter Informationen über einen Patienten in seiner Entscheidungsfindung unterstützen oder Krankheitsverläufe auf Basis der umfangreichen Patienten-Informationen zuverlässiger vorhersagen.
Darüber hinaus ist eine Dokumentationsunterstützung denkbar, bei der die KI ärztliche Notizen erkennt und in ein strukturiertes Datenformat transkribiert. Eine solche Funktion bietet der HealthShare Co-Pilot von InterSystems schon heute: Er übernimmt handschriftliche Notizen einer Gesundheitsfachperson automatisch in ein strukturiertes, digitales Format und kann die Daten direkt im Klinik-Informationssystem hinterlegen.
Fazit
Die bisher eher vorsichtige Entwicklung des EPD und die aktuelle Entscheidung für eine Zentralisierung führen mancherorts zu der Sorge, dass sich das EPD zu einem Mammutprojekt entwickelt. Gleichwohl sollten vorübergehende Hindernisse nicht dazu führen, ein derart wichtiges Projekt zu vertagen. Denn ein elektronisches Dossier ist ein elementarer Bestandteil eines digitalen Ökosystems, das eine effiziente Versorgung der Zukunft ermöglicht. Ob das elektronische Patientendossier jetzt und in Zukunft einen echten Nutzen für Ärzte und Patienten liefert, hängt in hohem Masse von dessen technologischer Basis ab.